Überflüssig, böses Füllwort, sagt nichts aus, unbedingt streichen: Texter, Vortragsredner und Schreibcoaches schimpfen unisono auf das kleine Wörtchen „eigentlich“. Dabei hat es überhaupt nichts verbrochen, sondern kann Texten richtig guttun.
***
Schätz mal: Wie oft am Tag sagst du „eigentlich“? Ich habe dazu online keine Angaben gefunden, bin aber sicher, dass da jeder in den zweistelligen Bereich kommt. Wir sagen „eigentlich“, „quasi“, „sozusagen“, „entsprechend“, „offensichtlich“, „na ja“, „also“.
Lauter Füllwörter, die wir uns nicht lange zurechtlegen, sondern die einfach aus unserem Mund rausploppen. Würden wir so schreiben, wie wir sprechen, wären die Sätze voller Verhaspler, Einzelsilben, Stolperlaute und eben Füllwörter.
Beim privaten freien Sprechen ist das okay, sagen Rhetorikexperten und Texter. In Texten aber nicht. Denn die legen wir uns sorgsam zurecht, um eine bestimmte Wirkung erzielen, selbstbewusst zu klingen und zu verkaufen.
Wenn wir also „eigentlich“ schreiben,
- verlängern wir den Text unnötig,
- machen die Aussage schwammig
- und wirken unsicher.
Heißt es. Und was zum Geier hat „eigentlich“ eigentlich für eine Bedeutung? Kann das jemand aus dem Eff-eff definieren? Wieso benutzen wir ein Wort so oft und können nicht sagen, was wir damit meinen?
Und müssen wir das Wort jedes Mal wieder rausstreichen, obwohl wir es instinktiv in den Satzfluss integriert haben?
Wenn du im Web nachschaust, wirst du folgende Definition finden:
einer Sache in Wahrheit zugrunde liegend; tatsächlich, wirklich
die wirkliche, ursprüngliche, wörtliche, nicht übertragene Bedeutung eines Wortes
verstärkt oder relativiert besonders in Fragesätzen eine gewisse Anteilnahme, eine vorwurfsvolle Äußerung
Mal ein Beispiel:
Eigentlich war es gar nicht so.
Eigentlich entspricht hier Tatsächlich:
Tatsächlich war es gar nicht so.
Und in Gedanken fügst du jetzt automatisch hinzu: …,sondern es war so und so.
Die gleiche Aussage ohne „eigentlich“:
Es war gar nicht so.
Klingt merkwürdig abgehackt, oder?
Verwässert das Wort hier irgendwas? Nein, weil der Satz sonst außer „gar“ (auch so’n komisches Wort) keine Füllwörter enthält.
Hieße der Satz
Also eigentlich war es ja im Grunde gar nicht so
würde ich auch sagen, dass er schwammig klingt. Genauso wie
Eigentlich bin ich ganz zufrieden als Freiberuflerin.
Selbstbewusst klingt anders. Aber da muss eben jeder Satz individuell geprüft werden.
Nächstes Beispiel:
Wie heißt der eigentlich?
Hier entspricht „eigentlich“ dem Wort „überhaupt“. Der spielt jetzt schon so lange in unserem Fußballteam und ich kenn den noch gar nicht, wie heißt der eigentlich?
Ohne „eigentlich“:
Wie heißt der?
Hat nicht dieselbe Aussage, wie wir merken.
Ihr eigentliches Unterrichtsfach ist Deutsch.
„eigentlich“ entspricht hier „richtig“.
Ihr richtiges Unterrichtsfach ist Deutsch.
Noch ein Beispiel:
Was ich eigentlich noch sagen wollte:…
„Eigentlich“ hat hier die gleiche Bedeutung wie „übrigens“.
Du merkst: „Eigentlich“ ist ein kleines Multi-Talent, ein Chamäleon, weil es mehr als nur eine Bedeutung hat und vielfältig einsetzbar ist.
Die Bedeutung des Wortes ergibt sich aus der Art, wie man es mündlich betont, oder aus dem schriftlichen Kontext.
Das Wort kann sogar Spannung erzeugen:
Eigentlich hatte er dem Alkohol abgeschworen.
Jetzt erwarten wir vom Folgesatz so etwas wie
Aber dann stand da dieses verlockende Glas Bordeaux vor ihm.
Wir lesen „eigentlich“ und denken automatisch das darauf folgende „…aber“ mit.
Eigentlich sollte Rotkäppchen auf dem Weg bleiben (aber dann kam sie doch vom Weg ab und traf auf den bösen Wolf).
Ohne das Wort klingt der Satz unvollständig:
Er hatte dem Alkohol abgeschworen.
Rotkäppchen sollte auf dem Weg bleiben.
Im Marketing kann sich das so lesen:
Eigentlich (aka normalerweise) kostet der Onlinekurs 399 Euro. Aber nur heute bekommst du ihn für die Hälfte!
Wenn es schlicht Der Onlinekurs kostet 399 Euro heißen würde, hättest du nicht schon beim ersten Satz geahnt, dass im zweiten Satz die einmalige Chance auf den halben Preis wartet, oder?
Jan Delay und Udo Lindenberg haben diesem Satz sogar einen ganzen Hit gewidmet:
Eigentlich bin ich ganz anders
Ich komm nur viel zu selten dazu
Also: Dann muss ja irgendwas an dem Wörtchen dran sein, oder?
Und damit auch zu dem Grund, warum ich ihm überhaupt einen ganzen Beitrag widme:
Mich nervt, dass Schreibtipps und vermeintliche Textregeln im Web und bei Instagram nicht hinterfragt werden.
Wenn du „Füllwörter“ oder „Floskel“ bei Google eingibst, wirst du auf zig Artikel stoßen, die dir alle raten, „eigentlich“ rigoros aus deinem Text zu streichen, weil es schließlich kein Wort ist, dass für die Kernaussage wichtig ist.
Und das wird dann immer so weitergetragen und kopiert bis hinein in die Posts und Blogs von Textern, Schreibtrainern und Social Media Managern, die dann nur noch Subjekt Prädikat Objekt schreiben und sich wie werbeschleudernde Roboter mit Megafon anhören.
Wie ich aber hoffentlich deutlich machen konnte, ist das so nicht ganz richtig. Wie gesagt:
Jeder einzelne Satz muss individuell geprüft werden.
Ja, manchmal tut’s dem Satz gut, wenn du „eigentlich“ streichst. Sehr oft aber trägt dieses Wort die ganze Stimmung des Gesagten.
Es gibt dem Text eine Satzmelodie, einen Schwung, macht ihn geschmeidig. Hinter jedem „eigentlich“ steht eine eigene kleine Aussage, die in diesem einzelnen Wort zusammengefasst werden kann.
Vergleiche:
Was tun Sie hier?
Was tun Sie eigentlich hier?
Welcher der zwei Sätze könnte von jemandem sein, der sauer ist? Der letzte (Was tun Sie überhaupt hier?!).
Welcher Satz könnte von jemandem sein, der flirten will? Der letzte (Sie sind mir ja bisher noch gar nicht aufgefallen, erzählen Sie mal, was tun Sie eigentlich hier?).
Also:
„Eigentlich“ ist ein feines, liebes Wort, das seinen Platz im deutschen Sprachschatz völlig berechtigt innehat. Es ist der Joker, der deinem Text eine menschliche Färbung verleiht. Ein richtig kleiner Schatz, eigentlich.